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Prostatakrebs-Behandlungen: "Sexualfunktion stärker in den Fokus rücken"

30. Juli 2020 | von Ingrid Müller

Manche Behandlungen bei Prostatakrebs haben Folgen, die Männern nicht willkommen sind, etwa die Erektile Dysfunktion. Der Urologe Dr. Jost von Hardenberg erklärt im Interview, wie Ärzte bei der Wahl der Behandlung vorgehen und warum der Erhalt der Sexualfunktion mehr Gewicht bekommen sollte.

Priv.-Doz. Dr. med. Jost von Hardenberg, Oberarzt, Klinik für Urologie und Urochirurgie, Universitätsmedizin Mannheim

Herr Dr. von Hardenberg, es gibt heute viele Behandlungsmöglichkeiten bei Prostatakrebs. Aber manche können unerwünschte Folgen für den Mann haben, zum Beispiel die Erektile Dysfunktion. Welche Prioritäten setzen Urologen bei der Wahl der Behandlung?

Alle Behandlungsmöglichkeiten haben leider Vor- und Nachteile und können Folgen für den Mann haben. Wir informieren jeden Mann zunächst in Gesprächen und eventuell durch eine Zweitmeinung gut und verständlich über sämtliche Behandlungen, die für ihn zur Wahl stehen. In die Entscheidung für oder gegen eine Therapie fließen immer individuelle Faktoren mit ein.

Dazu gehören zum Beispiel bestehende Grunderkrankungen, vorherige Operationen, das Tumorstadium sowie der Status der Kontinenz und Potenz. Dabei hilft uns auch die ‚Online-Entscheidungshilfe Prostatakrebs‘ der Deutschen Gesellschaft für Urologie. Männer können sich von zu Hause aus und in Ruhe alle Therapiemöglichkeiten anhand von Videos erklären lassen. Das hilft vielen, um sich ein besseres Bild zu machen. Ihre Prioritäten sollen Männer letztlich selbst festlegen – immer mit der Hilfe ihres behandelnden Arztes. Meine Aufgabe als Urologe sehe ich darin, wissenschaftliche Erkenntnisse und meine Erfahrungen mit einzubringen und Sicherheit zu vermitteln.

Muss jeder Mann, der sich operieren lässt, zwangsläufig mit dem Verlust der Sexualfunktion rechnen?

Nein, ganz und gar nicht. Vor allem bei jungen, gesunden Männern mit einer guten Potenz können wir bei einer Prostatektomie oft ein oder beide Gefäßnervenbündel schonen und so die Sexualfunktion erhalten. Die Voraussetzung dafür ist allerdings, dass das Tumorstadium und der Befund während der Operation dies auch zulassen.

Studien zeigen, dass der Erhalt der Sexualfunktion auf der Prioritätenliste von Ärzten eher hinten angesiedelt ist. Für den Therapieerfolg spielt sie aus medizinischer Sicht weniger eine Rolle. Warum?

Die Heilung von Prostatakrebs besitzt bei den lokal begrenzten Tumorstadien immer die höchste Priorität. Daran messen wir den Therapieerfolg. Unser vorrangiges Ziel ist es, dass Männer mit Prostatakrebs zukünftig ein Leben ohne Metastasen führen können.
Heute gibt es aber neuere Biopsiemethoden wie die Fusionsbiopsie. Mit dieser können wir die Aggressivität des Prostatakrebses besser vorab einschätzen. Wenn der bösartige Prostatatumor weniger aggressiv ist, ist auch die Gefahr von Metastasen geringer.

Um diese ausgewählten Fälle von Männern geht es. Wir können ihnen eine aktive Überwachung empfehlen, bei der wir Behandlungen wie eine Operation zunächst aufschieben – und damit auch die Folgen vermeiden. Daher gehört der Erhalt der Sexualfunktion heute aus meiner Sicht viel stärker in den Fokus des Beratungsgesprächs gerückt. Aber wie gesagt: Wir müssen für die Behandlungswahl immer das Tumorstadium und die Aggressivität des Prostatakrebses einordnen. Erst dann treffen wir eine gemeinsame Therapieentscheidung.

Aktive Überwachung

Erfahren Sie, wie die aktive Überwachung (active surveillance) funktioniert und warum manche Männer sie unnötig abbrechen.

Prostata Hilfe Deutschland: Illustrationsbild - Arzt und Patient im Gespräch
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Sie führen ja viele Gespräche mit Männern, die an Prostatakrebs erkrankt sind. Wie wichtig ist das Thema Sexualität im Beratungsgespräch?

Die Sexualität ist ein sehr wichtiger Bestandteil des Gesprächs, denn die verschiedenen Behandlungen wirken sich unterschiedlich auf die spätere Sexualfunktion aus. Förderlich ist es deshalb, wenn die oder der Partner*in diesem Gespräch mit dabei ist. Viele Paare kommen heute ohnehin schon gemeinsam in die Sprechstunde, denn die Sexualität betrifft ja immer beide.

Haben denn Paare in diesem Punkt eher die gleiche Sicht oder erleben Sie auch Diskussionen?

Die meisten Paare kennen sich über viele Jahre, sind miteinander vertraut und haben Themen wie die Sexualität schon zu Hause diskutiert. Allgemein würde ich sagen, dass der betroffene Mann den Erhalt seiner Sexualfunktion meist stärker im Blick hat. Beim Partner oder bei der Partnerin ist dagegen oft die Angst größer, den Partner zu verlieren durch eine potenziell lebensbedrohliche Erkrankung. Das Sexualleben besitzt für ihn oder sie oft eine geringere Priorität. Sie wollen ihren Partner möglichst lange behalten. Daher gibt es natürlich Diskussionen darüber, was jetzt wichtiger ist.

Welche Erwartungen haben Männer, was ihre Sexualfunktion nach einer OP angeht?

Das ist äußerst unterschiedlich. Prostatakrebs betrifft viele ältere Männer, aber auch Männer mit einem langjährigen Diabetes mellitus, Vorerkrankungen des Gefäßsystems oder Raucher. Das sind allesamt Faktoren, welche die Potenz schwächen können. Bei vielen hat die Sexualfunktion schon vor ihrer Prostatakrebserkrankung gelitten. In diesen Fällen müssen wir die Erwartungen manchmal bremsen. Dagegen sind jüngere Männer, die über eine gute Potenz verfügen, meist sehr optimistisch, was ihre anschließende Sexualfunktion angeht.

Können Ärzte nicht eine Vorhersage treffen, mit welcher Wahrscheinlichkeit und in welchem Ausmaß ein Mann eine Erektile Dysfunktion erleben wird?

Nein, wir können leider nicht genau voraussagen, wie gut es um die Sexualfunktion nach der OP tatsächlich bestellt sein wird. Wir versuchen aber, die Wahrscheinlichkeit für eine Erektile Dysfunktion und ihr mögliches Ausmaß abzuschätzen und so unrealistischen Erwartungen vorzubeugen. Den meisten Männer gelingt es, sich gut darauf einzustellen.

Wie versucht der Operateur denn, die Sexualfunktion zu schützen?

Sie müssen sich das so vorstellen: Die Prostata hat etwa die Form einer Kastanie, die mit Gefäßnervenbündeln überzogen ist. Und diese Bündel sind bei jedem Mann unterschiedlich verteilt und für den Operateur nicht sichtbar. Wir versuchen, während des Eingriffs das Gewebe mit den Gefäßnervenbündeln nahezu auf der gesamten Fläche abzulösen und dadurch zu schonen. So können wir die Sexualfunktion oft erhalten, aber eine Garantie gibt es trotzdem nicht. Die Erektile Dysfunktion ist nach wie vor die häufigste Folge der Prostatektomie.

Die Behandlungen bei Prostatakrebs haben sich in den letzten Jahren enorm verbessert. So sind die OP-Techniken deutlich feiner und schonender geworden, etwa durch den Einsatz von Op-Robotern. Lässt sich die Sexualfunktion mit Hilfe der Technik nicht besser „retten“?

Bisher ist es Forschern in keiner Studie gelungen, diese Frage eindeutig mit „ja“ oder „nein“ zu beantworten. Bekannt ist Folgendes: Besonders Kliniken, die viele Operationen pro Jahr durchführen, erzielen aufgrund ihrer umfangreicheren Erfahrungen bessere Ergebnisse. Dabei spielt es eine untergeordnete Rolle, ob ein Roboter bei der OP assistiert oder der Chirurg offen operiert.

Operation mit Roboter

Lesen Sie, wie Ärzte Prostatakrebs operieren und ein Roboter dabei assistiert.

Prostata Hilfe Deutschland: Illustrationsbild - High-Tech Operationssaal
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Gibt es auch individuelle Faktoren bei Männern, die das Operationsergebnis beeinflussen können?

Davon gibt es einige. Ich nenne Ihnen einmal ein Beispiel: Nach einer vorherigen Operation der Prostata ist es oft schwieriger und manchmal überhaupt nicht mehr möglich, die Nerven für die Sexualfunktion zu schonen. Solche Eingriffe können beispielsweise eine TURP bei einer gutartigen Prostatavergrößerung oder die fokale Therapie bei lokal begrenztem Prostatakrebs sein. Dabei behandeln wir nur den Tumor gezielt, aber nicht die gesamte Prostata. Schwierigkeiten könnte es dann auf der behandelten Seite der Prostata geben.

Auch der Faktor „Zeit“ spielt nach der OP eine Rolle. Kann sich Sexualfunktion nicht selbst nach Wochen oder Monaten noch verbessern?

Ja, die Zeit ist ein wichtiger Faktor. Wir wissen aus Studien, dass sich die Sexualfunktion selbst nach vielen Monaten noch verbessern kann. Es muss nicht so bleiben wie direkt nach der Operation. Manchmal brauchen Männer also ein bisschen Geduld, bis sich das Sexualleben wieder erholt hat und Sexualität möglich ist.

Daneben gibt es Medikamente, die einer Erektilen Dysfunktion nach der Operation entgegenwirken sollen.

Wir setzen am häufigsten Medikamente aus der Gruppe der Phosphodiesterase-Hemmer oder PDE5-Hemmer ein. Dazu gehören zum Beispiel die Wirkstoffe Sildenafil, Tadalafil oder Vardenafil. Wir verschreiben sie aber nur bei Bedarf, denn eine kontinuierliche Einnahme scheint für das Wiedererlangen der Potenz keinen besonderen Vorteil zu bringen. Ob wir auf die Medikamente auch komplett verzichtet könnten, müssen wir aber in Studien noch abschließend klären.

Eignen sich diese Potenzmittel für jeden Mann und was bringen sie genau?

Leider helfen PDE5-Hemmer nicht jedem Mann. Es hängt auch von den persönlichen Vorerkrankungen ab, ob wir sie einsetzen können oder nicht. Eine Alternative ist der Wirkstoff Alprostadil, den sich Männer selbst in die Schwellkörper injizieren können. Aber auch Penisvakuumpumpen sind eine Möglichkeit, um der Erektilen Dysfunktion nach der Operation entgegenzuwirken. Die Idee sämtlicher Behandlungen ist es, die Sauerstoffversorgung der Schwellkörper nach der Operation trotz der Funktionsstörung des Gefäßnervenbündels wieder zu verbessern. So versuchen wir, Langzeitschäden zu vermindern und die Potenz schneller wieder herzustellen.

Wenn Sie uns Ihre ärztlichen Erfahrungen aus dem Praxisalltag verraten: Bedeutet eine eingeschränkte Sexualfunktion das Ende des Sexuallebens oder der Partnerschaft?

Meine persönliche Erfahrung ist, dass das Sexualleben eines Paares zwar oft ein anderes ist als vor der Prostatakrebserkrankung. Das hat aber nicht nur etwas mit der Operation zu tun, sondern auch mit psychischen Gründen. Denn die Diagnose Prostatakrebs bedeutet wohl für die meisten Männer einen Wendepunkt in ihrem Leben – das betrifft auch die Sexualität. Ich persönlich habe aber noch keinen Fall erlebt, in dem eine eingeschränkte Sexualfunktion das Ende der Partnerschaft bedeutet hätte. Das ist doch sehr positiv, nicht?

Wo können Männer mit Prostatakrebs sowie ihre PartnerInnen Hilfe finden?

Der erste Ansprechpartner ist der behandelnde Urologe*in. Männer sollten es im Beratungsgespräch aktiv ansprechen, wenn sie sich weitere Hilfsangebote wünschen. Das ist kein Eingeständnis von Schwäche. Es gibt ausgebildete Psychoonkologen und Sexualtherapeuten. Auch Selbsthilfegruppen vor Ort sind in der Regel sehr gut organisiert und liefern umfassende Informationen. Und schließlich bietet der Bundesverband Prostatakrebs Selbsthilfe e.V. eine Beratungshotline, an die sich Männer oder die PartnerInnen mit allen Fragen wenden können.

Das Interview führte Ingrid Müller.
Idee: Dr. Knut Müller