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Psychoonkologie: „Psychologische Hilfe ist für jeden Krebspatienten ratsam“
22. April 2019 | von Ingrid MüllerDie Psychoonkologie hilft Krebspatienten, besser mit ihrer Erkrankung umzugehen. Der Diplom-Psychologe Markus Besseler von der Bayerischen Krebsgesellschaft erklärt, wie die psychische Hilfe aussieht und warum Männer sich mit oft damit schwer tun.
Herr Besseler, zu Ihnen kommen viele Krebspatienten in die Krebsberatungsstelle. Welche Sorgen, Ängste und Nöte plagen sie am meisten?
Eine Krebsdiagnose ist wie ein „Sturz aus der Wirklichkeit“, die radikale Veränderungen im Lebensalltag bedeutet. Sie wirft existenzielle Fragen auf, wie das Leben jetzt weiter verläuft, was mit dem Beruf geschieht oder wie es um die finanzielle Situation bestellt ist. Aber auch die Endlichkeit des Lebens schwingt mit. Theoretisch ist es ja jedem Menschen klar, dass wir alle eines Tages gehen müssen, aber eben nur theoretisch. Durch die Krebsdiagnose rückt die eigene Sterblichkeit ein Stückchen näher, in der Regel selbst dann, wenn gute Heilungschancen bestehen.
Die allermeisten Krebspatienten fühlen sich seelisch belastet durch die Krebsdiagnose, einige sogar sehr schwer.
Wir wissen dass zirka 50 Prozent der Krebspatienten psychisch erheblich belastet sind, aber auch Angehörige leiden – das wird oft vergessen. Manche von ihnen wollen sich zudem ihrem näheren Umfeld nicht zumuten. So erreichen sie ein Stadium, in dem professionelle Hilfe umso wichtiger wird. Die anderen 50 Prozent sind eher moderat belastet. Das heißt, sie können die Situation mit Hilfe ihres Partners oder der Partnerin, der Familie oder Freunden gut meistern.
Wer zum Psychoonkologen geht, hat eine psychische Erkrankung – das glauben viele. Stimmt das?
Nein, das ist ein Vorurteil, das sich leider hartnäckig hält. Die meisten Krebspatienten haben überhaupt keine psychische Krankheit, die ja nach wie vor in der Gesellschaft mit einem Stigma behaftet ist. Vielmehr ergeben sich der seelische Stress und die Belastungen aus der Krebserkrankung selbst. Jeder Mensch würde im Falle einer Krebserkrankung so reagieren.
Einige haben jedoch schon vor ihrer Krebsdiagnose unter einer Depression, Angststörung oder Posttraumatischen Belastungsstörung gelitten. Und diese Erkrankung kann durch die Krebskrankheit und der damit einhergehenden zusätzlichen Belastung erneut ausbrechen. Bei anderen Menschen sind die Voraussetzungen für eine seelische Erkrankung schon angelegt. Mit der Krebserkrankung kommen sie jetzt erstmals zum Ausbruch. Frauen sind in der Regel davon häufiger betroffen als Männer.
Gibt es einen Punkt, an dem Sie einem Krebspatienten raten würden: „Suchen Sie sich psychologische Hilfe – es gibt Gesprächsbedarf“?
Ich würde sagen, dass psychologische Unterstützung für jeden Krebspatienten empfehlenswert ist. Man darf sie einem Menschen allerdings nicht aufzwingen, das halte ich für den falschen Weg. Dass ein Angehöriger oder Freund mit seiner Krebserkrankung nicht gut klar kommt, lässt sich an einigen Verhaltensweisen erkennen. Ich gebe Ihnen einige Beispiele: Wenn er sich zurückzieht, verschließt und für andere nicht mehr erreichbar ist, obwohl er vorher ein offener und zugewandter Mensch war, ist psychoonkologische Hilfe ratsam. Das Gleiche gilt, wenn er gedanklich wiederholt um dasselbe kreist, immer wieder ängstlich, besorgt und verunsichert reagiert, Schlafstörungen entwickelt und die Krebserkrankung ihn über Wochen und Monate nicht mehr zur Ruhe kommen lässt.
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Das wichtigste Werkzeug der Psychoonkologen ist das Gespräch. Wie haben wir uns es vorzustellen?
Zunächst frage ich mich: Was bietet mir die Person im Gespräch an? Jeder Krebspatient darf sagen, wie er sich fühlt, wovor er Angst hat und was ihm unter den Nägeln brennt. Vielen fällt es leichter, mit einem Profi darüber zu reden, der ihnen nicht so nahe steht wie der eigene Partner oder die Partnerin. Wir geben Betroffenen Zeit, hören zu, stellen Fragen und ergründen, wie wir ihm individuell helfen können. Dann zeigen wir ihm verschiedene Wege auf.
Viele Patienten tragen übrigens die Lösung für die Probleme schon in sich. Aber durch die Schockstarre nach der Krebsdiagnose und die lähmende Angst ist der Zugang zu sich selbst oft blockiert. Wir versuchen, diese Barriere durch offen Fragen einerseits und das Eingehen auf die individuelle Situation andererseits aufzulösen. So wollen wir dem Betroffenen seine Handlungsfähigkeit zurückgeben.
Was tun Psychoonkologen darüber hinaus für einen Krebspatienten?
Wir vermitteln ihm qualitätsgesicherte Informationen über seine Krankheit und geben bewährte Empfehlungen weiter, zum Beispiel, worauf er im Gespräch mit dem Arzt achten soll. Unsere Tipps stellen allerdings keine Patentrezepte dar. Lösungen gibt es nämlich viele. Wichtig ist, dass sie individuell zu einem Krebspatienten passen. So sollten Patienten beispielsweise zum Arztbesuch immer eine vertraute Person mitnehmen, denn vier Ohren hören mehr als zwei. Sie sollen sich trauen, nachzufragen oder eine Zweitmeinung einzuholen. Dies ist keineswegs ein Zeichen von Misstrauen gegenüber dem behandelnden Arzt, wie viele glauben, sondern schafft Sicherheit.
Auch Informationen zur Ernährung, Entspannung, zum Sport und zu komplementären Behandlungen geben wir ihm an die Hand. Krebspatienten lernen so, dass sie selber etwas für sich tun können. Dann fühlen sie sich nicht mehr ganz so ausgeliefert und ohnmächtig. Für einige ist außerdem die Selbsthilfe eine gute Möglichkeit, weil sie dort erleben, dass sie mit ihren Problemen nicht alleine sind.
Und wenn das Reden und Alltagstipps nicht genügen?
In solchen Fällen ist es wichtig, zunächst diagnostisch abzuklären, ob womöglich eine zusätzliche psychische Erkrankung vorliegen könnte. Sollte dies der Fall sein, bedarf es unter Umständen einer begleitenden Behandlung mit Medikamenten. Eine medikamentöse Therapie ist aber auch bei extremen Alltagsbelastungen sinnvoll, etwa wenn die Gedanken einen gefangen halten, man über längere Zeiträume nachts nicht schlafen kann oder sich immer wieder ausgesprochen niedergeschlagen und antriebslos fühlt. Wir sind dann bei der Suche nach einem geeigneten Arzt behilflich, da wir selbst keine Medikamente verschreiben.
Psychoonkologen können zwar helfen, aber keine Krebskrankheit heilen.
Stimmt, da sind unsere Möglichkeiten in der Tat begrenzt. Aber wir können Krebspatienten zu mehr Lebensqualität und einem achtsameren Umgang mit sich selbst und der Erkrankung verhelfen. Ziel ist es immer, den Lebensalltag von Betroffenen zu verbessern. Aber auch dann, wenn ein Mensch den eigenen Tod thematisiert, weil die Krebserkrankung bereits fortgeschritten ist, können wir ihm helfen. Ich kann ihn zum Beispiel dabei unterstützen, das Annehmen und Loslassen zu lernen. Wir ermutigen ihn zum Beispiel dazu, seine Gedanken aufzuschreiben, den Moment zu leben, Dinge zu erledigen, die für ihn wichtig sind – vor allem auch Sachen, die er sich bis dato aufgespart hat.
Eine Krebserkrankung betrifft meist die gesamte Familie. Wie wichtig ist es, auch Angehörige einzubeziehen?
Sehr wichtig! Die Krebserkrankung betrifft sie ja ebenfalls, wenn auch nur indirekt. Aber sie fühlen immer mit. Manchmal leiden Angehörige sogar stärker als der Krebspatient selbst. Viele stellen sich in die zweite Reihe, nehmen ihre eigenen Nöte nicht ernst und geraten schließlich an ihre Grenzen. Auch Angehörige brauchen also Hilfe.
Was können Angehörige einem Krebspatienten Gutes tun, was sollten sie besser lassen?
Aus meiner Sicht gibt es kein Patentrezept für den Umgang mit einem Krebspatienten, weil jeder Mensch anders ist. Aber einige Dinge sind doch für fast alle gültig: Angehörige sollten niemals ohne Rücksprache mit ihrem krebskranken Partner handeln und auch nichts ohne sein Wissen entscheiden. Diese Überfürsorglichkeit, die vielleicht gut gemeint ist, entmündigt einen Menschen. Sie ist mitunter eher ein Zeichen dafür, dass der Angehörige den weitaus größeren Leidensdruck hat.
In einer Krisensituation spielt zudem immer die Dynamik der Beziehung eine Rolle. War die Partnerschaft schon vor der Krebserkrankung brüchig, wird sie meist danach nicht besser. Umgekehrt kann eine intakte Beziehung durch die Krebserkrankung sogar noch intensiver werden und mehr Nähe bringen. Wichtig ist immer, dass ein Krebspatient mal mehr, mal weniger Hilfe und Zuwendung braucht. Und diese Bedürfnisse gilt es, von Tag zu Tag neu herauszufinden.
Vor allem Männer tun sich oft mit einem Besuch beim „Seelendoktor“ schwer oder lehnen ihn gänzlich ab – warum?
Ich vermute, dass es mit der Entwicklungsgeschichte des Mannes als solcher zu tun hat. Er begreift sich immer noch als „Einzelkämpfer, Jäger und Sammler“, der unerschütterlich, stark und immer agil ist und mit Krankheiten nichts am Hut hat. Dahinter verbirgt sich ein archaisches Verständnis vom Mann-Sein, das bis in unsere heutige Zeit hinein wirkt. Bekannt ist gleichfalls, dass Frauen eine höhere soziale Kompetenz und Fähigkeit zugestanden wird, über emotionale Dinge unbefangener und offener reden zu können. Ein Mann mit Prostatakrebs sagte einmal zu mir: ‚Ich musste erst einmal krank werden, um über mich und meine Empfindungen reden zu können. Für diese Erfahrung bin ich heute dankbar, auch wenn ich dafür nicht zwangsläufig hätte erkranken müssen‘.
Dann sind Frauen also in Ihrer Krebsberatungsstelle in der Überzahl.
So ist es. Wir haben Anfragen von ungefähr 70 Prozent Frauen und etwa 30 Prozent Männer. Viele Männer, vor allem der älteren Generation, kommen zunächst nur gemeinsam mit ihren Frauen, weil diese den Termin ausgemacht haben. Erst später trauen sich dann manche alleine zu uns. Bei der Prävention ist es übrigens ähnlich. Männer tragen meist weniger Fürsorge für sich selbst als Frauen das tun.
Wir überlegen uns natürlich auch, mit welchem Angebot wir Männer besser erreichen können, zum Beispiel mit Events wie einer Ruderregatta. Ich habe aber die Hoffnung, dass die jüngere Männergeneration da anders herangeht. Dafür gibt es schon vorsichtige Hinweise. Sie sind aufgeschlossener und haben weniger Probleme mit Besuchen beim Arzt oder Psychologen.
Die Psychoonkologie hat einige positive Effekte für Krebskranke. Welche sind das genau?
Krebspatienten gewinnen mehr innere Stärke und Selbstsicherheit, kommen aus ihrer passiven Rolle heraus und werden wieder handlungsfähig. Viele empfinden es ja so, als wären sie nicht mehr Herr über ihren Körper, Alltag und ihr Leben. Außerdem können sie anschließend besser mit ihren Ängsten und Unsicherheiten umgehen. Ablenkung und Verdrängung, etwa ein Buch zu lesen oder sich einer Aufgabe zu widmen, sind übrigens wichtige Strategien dabei. Wer sich seelisch helfen lässt, kommt auch schneller wieder in den Beruf und die Normalität zurück, ist wieder aktiv im Leben und fühlt sich zugehörig. Insgesamt würde ich sagen, dass die Lebensqualität durch psychoonkologische Maßnahmen erheblich steigt.
Die Warteliste bei Psychotherapeuten und Psychiatern mit psychoonkologischer Zusatzqualifikation ist lang in Deutschland. Wo und wie finden Krebspatienten schnell Unterstützung?
Zunächst einmal ist der Begriff Psychoonkologie nicht geschützt. Jeder, der hierzu eine qualifizierte, an Leitlinien orientierte und von der Deutschen Krebsgesellschaft akkreditierte Weiterbildung absolviert hat, darf sich so nennen. Das können Ärzte, Psychologen, approbierte Psychotherapeuten, aber auch Sozialarbeiter und Seelsorger sein. Es ist in der Tat so, dass es bei niedergelassenen Kollegen mitunter lange Wartezeiten gibt. Dies stellt ein grundsätzliches Problem in unserem Gesundheitssystem dar. Aber wie schon gesagt: Nicht jeder Krebspatient braucht einen Psychiater oder Psychotherapeuten.
Zertifizierte Krebszentren und Rehakliniken bieten unmittelbar psychoonkologische Unterstützung an. Aber auch die Krebsberatungsstellen, die es in allen Bundesländern gibt, sind erste Ansprechpartner. Wir stellen neben einer ausführlichen Beratung ein niedrigschwelliges Angebot zur Verfügung, zum Beispiel durch qualitätsgesicherte Informationen, zusätzliche Kurse, Gruppen und Vorträge. Wer das direkte Gespräch vor Ort sucht, bekommt einen Termin meist schon innerhalb einer Woche. Alle Beratungen sind kostenlos, und sie brauchen dafür keinen Befund oder eine Überweisung vom Arzt. Viele stellen dann fest, dass ein Besuch beim Psychologen gar nicht so schlimm ist.
Das Interview führte Ingrid Müller.