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Medizinische Leitlinien – das steckt dahinter

22. Juli 2024 | von Ingrid Müller

Medizinische Leitlinie geben Handlungsempfehlungen zu Diagnostik und Therapien einer Krankheit wie Prostatakrebs oder Prostatavergrößerung. Eine Leitlinie ist ein umfassendes Werk, das das qualitativ beste und aktuellste Wissen bündelt.

Kurzüberblick

  • Was sind medizinische Leitlinien? Medizinische Handlungsempfehlungen für Ärztinnen und Ärzte zu Diagnostik und Therapie einer Erkrankung, z.B. Prostatakrebs, Prostatavergrößerung, Prostatitis; bilden das beste und aktuellste Wissen zu einer Krankheit ab
  • Definition: systematisch entwickelte Aussagen und Handlungsempfehlungen, basieren auf nachgewiesener Wirksamkeit, sollen Entscheidungsfindung unterstützen, z.B. von medizinischen Fachleuten, Patientinnen, Patienten
  • Merkmale: Verschiedene Expertinnen und Experten beteiligt, Recherche und Bewertung von Studien und Fachliteratur, regelmäßige Aktualisierung, rechtlich nicht verbindlich, sondern nur Handlungsempfehlungen, verschiedene Empfehlungsgrade und Konsensstärken, für manche Krankheiten gibt es Patientenleitlinien
  • Erstellung: Leitlinienkommission aus dem jeweiligen Fachgebiet, z.B. bei Prostatakrebs Urologie, Nuklearmedizin, Onkologie, Radiologie, Psychoonkologie, Patientenvertretung; Wissen sammeln und bewerten, Konsens finden, Interessenskonflikte offen legen
  • Leitlinien-Arten: Vier Stufen – S1, S2e, S2k und S3 (höchste Stufe, qualitativ am hochwertigsten und verlässlichsten); Prostatakrebs ist S3-Leitlinie, gutartige Prostatavergrößerung S2e

Jeder Mensch mit einer Krankheit möchte bestmöglich und nach dem neuesten Stand der Wissenschaft behandelt werden. Dafür gibt es medizinische Leitlinien zu den verschiedensten Erkrankungen, zum Beispiel für die gutartige Prostatavergrößerung, Prostataentzündung (Prostatitis) oder Prostatakrebs. Eine medizinische Leitlinie umfasst Empfehlungen, wie Ärztinnen und Ärzte bei der Diagnostik und Therapie vorgehen sollen. Die Basis der Handlungsempfehlungen ist das derzeit qualitativ beste und aktuell verfügbare Wissen zu einer Erkrankung wie Prostatakrebs, das in Studien überprüft wurde. 

Medizinische Leitlinien sollen dazu beitragen, dass Patientinnen und Patienten in jeder Arztpraxis und Klinik in Deutschland die bestmögliche Diagnostik und Behandlung erhalten. Alle Ärztinnen und Ärzte haben Zugriff auf die medizinischen Leitlinien und können sich über aktuelle Empfehlungen informieren. Kein Arzt und keine Ärztin kann jederzeit über sämtliche Forschungen Bescheid wissen und auf dem neuesten Stand sein. Durch Leitlinien sollen möglichst alle Patienten, etwa Männer mit Prostatakrebs, eine qualitativ hochwertige und gleich gute Therapie erhalten. Insgesamt soll sich die medizinische Versorgung durch aktuelles, systematisch zusammengetragenes und kritisch bewertetes Wissen verbessern.

Behandlungen bei Prostatakrebs

Lesen Sie, welche Therapien bei einem Prostatakarzinom helfen können - je nach Stadium.

Medizinische Leitlinien - Definition

Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) ist zuständig für die Veröffentlichung der medizinischen Leitlinien. Sie liefert folgende Definition von Leitlinien:

  • Es sind systematisch entwickelte Aussagen und Handlungsempfehlungen, die den gegenwärtigen Erkenntnisstand zu einer Krankheit widerspiegeln.
  • Sie sollte auf einer systematischen Sichtung und Bewertung der nachgewiesenen Wirksamkeit (Evidenz) und einer Abwägung von Nutzen und Schaden alternativer Vorgehensweisen basieren.
  • Sie sollen die Entscheidungsfindung von Ärztinnen, Ärzten, Angehörigen weiterer Gesundheitsberufe, Patientinnen, Patienten, Bürgerinnen und Bürgern für eine angemessene Versorgung bei spezifischen Gesundheitsproblemen unterstützen. 

 

Welche Merkmale besitzt eine medizinische Leitlinie?

An der Erstellung einer Leitlinie sind verschiedene Expertinnen und Experten beteiligt, die mit einem Krankheitsbild wie Prostatakrebs befasst sind. Das Expertenteam recherchiert und sichtet veröffentlichte Studien, bewerten ihre Ergebnisse, stuft ihre Aussagekraft ein, befindet über den Nutzen und Schaden einer Untersuchung oder Therapie und gibt Empfehlungen, wie Ärztinnen und Ärzte bei der Diagnostik und Behandlung vorgehen sollten. 

Zu den Therapieempfehlungen bei Prostatakrebs zählen nicht nur die Aktive Überwachung, Operation, Bestrahlung oder Chemotherapie, sondern oft auch Maßnahmen zur psychosozialen Unterstützung, supportiven Therapie (Behandlung der Nebenwirkungen), Palliativmedizin (wenn Prostatakrebs nicht mehr heilbar ist), Rehabilitation und Nachsorge

Leitlinien werden in regelmäßigen Abständen aktualisiert. Überall auf der Welt wird in den Labors geforscht und in der Fachzeitschriften und Online-Publikationen werden neue Studien veröffentlicht. Durch diese regelmäßige Aktualisierung kann neu gewonnenes Wissen schnell in die Leitlinie einfließen. So kommen Fortschritte bei den Diagnosemethoden und Behandlungen schneller bei Patientinnen und Patienten an. Meist gilt für eine Leitlinie ein Aktualisierungszeitraum von fünf Jahren. Die Gültigkeitsdauer der Leitlinie lässt sich aber auch verlängern. Dann wird dies in der Leitlinie vermerkt. 

Die Empfehlungen der Leitlinie sind für Ärztinnen und Ärzte rechtlich nicht verbindlich. Dies steckt schon im Wort „Leitlinie“ selbst, die als eine Art „Anleitung“ und Orientierungs- und Entscheidungshilfe zu verstehen ist. Die AWMF schreibt, die Leitlinien seien „Handlungs- und Entscheidungskorridore“. Es gibt also einen gewissen Entscheidungsspielraum, weil auch immer der individuelle Fall eine Rolle spielt. Zertifizierte Prostatakrebszentren arbeiten zum Beispiel nach den medizinischen Leitlinien. 

Ärztinnen und Ärzte müssen den Empfehlungen nicht folgen und können juristisch auch nicht belangt werden, wenn sie von der Leitlinie abweichen. In manchen Fällen können oder müssen sie anders vorgehen, als es in der Leitlinie steht. Allerdings sollten sie dies dann begründen können. So können zum Beispiel Begleiterkrankungen ein Grund sein, um nicht streng nach der Leitlinie vorzugehen. 

Eine Leitlinie gibt aber nicht nur Empfehlungen, welche Diagnosemöglichkeiten und Behandlungen in Frage kommen, sondern schlägt auch Alternativen vor, zum Beispiel zu einer Therapie. Sie macht außerdem Aussagen darüber, was nicht gemacht werden soll und wovon sie abrät. 

In der Leitlinie steht auch, wie stark die jeweiligen Handlungsempfehlungen sind (es gibt eine Gewichtung). Unterschieden werden mehrere Empfehlungsgrade:

  • Starke Empfehlung –  Ärztinnen und Ärzte sollen dieser folgen.
  • Empfehlung –  Ärztinnen und Ärzte sollten dieser folgen.
  • Empfehlung offen: –  Ärztinnen und Ärzte können dieser folgen.

 

Auch wie sehr medizinische Fachleute bei ihren Empfehlungen übereinstimmen, steht in der Leitlinie. Angegeben wird die sogenannte  Konsensstärke. Ein starker Konsens bedeutet zum Beispiel, dass mehr als 95 Prozent der Stimmberechtigten zugestimmt haben. Die Formulierung „Keine mehrheitliche Zustimmung“ heißt, dass weniger als 50 Prozent  zugestimmt haben

Medizinische Leitlinien richten sich in erster Linie an Ärztinnen und Ärzte, aber auch an Pflege- und Gesundheitsfachkräfte. Verfasst ist eine Leitlinie daher in medizinischer Fachsprache. Sie verwendet viele Fachausdrücke, die für medizinische Laien in aller Regel unverständlich sind. 

Für manche Krankheiten wie Prostatakrebs sind  Patientenleitlinien verfügbar.  Die wichtigsten Inhalte, Empfehlungen und Aussagen sind hier allgemeinverständlich formuliert. Die Informationen sollen Menschen mit diesem Krankheitsbild nachvollziehbar und hilfreich sein. Patientenleitlinien sind kostenlos im Internet abrufbar.

Tipp!

Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) e.V. bietet unter anderem Patientenleitlinien zu:

Medizinische Leitlinien – so entstehen sie 

Medizinische Leitlinien werden meist systematisch nach einem bestimmten Verfahren erstellt. Zunächst wird eine Leitlinienkommission gebildet. Diese setzt sich aus Expertinnen und Experten aus jenem Fachgebiet zusammen, um das es in der Leitlinie geht. Bei Prostatakrebs sind dies unter anderem:

  • Arbeitsgemeinschaft Urologische Onkologie der Deutschen Krebsgesellschaft 
  • Arbeitsgemeinschaft für Psychoonkologie in der Deutschen Krebsgesellschaft
  • Berufsverband der Deutschen Radiologen 
  • Berufsverband der Deutschen Urologen 
  • Deutsche Gesellschaft für Urologie 

 

Die Federführung übernimmt meist ein Mitglied der medizinischen Fachgesellschaft, die mit dieser Erkrankung betraut ist. Heute wirken bei der Erstellung von Leitlinien oft auch Patientenorganisationen mit. An der Leitlinie Prostatakrebs war der Bundesverband Prostatakrebs Selbsthilfe (BPS) beteiligt. 

Anschließend sammeln die Expertinnen und Experten Wissen. Die Leitlinienkommission recherchiert verschiedenste Studien und Publikationen und trägt das Wissen zu einer Erkrankung möglichst vollständig zusammen. Dann bewertet sie die Informationen nach festgelegten Kriterien. Die Kommission diskutiert unterschiedliche Einschätzungen und Standpunkte. Diese sollen angemessen in die Leitlinie einfließen. „Strukturierte Konsensfindung“ heißt dieser Prozess. 

Wichtig bei der Erstellung einer Leitlinie ist auch, dass die Beteiligten eventuelle Interessenskonflikte offen legen. Dies wird in der Leitlinie erfasst und vermerkt. Es muss zum Beispiel erkennbar sein, wenn ein Mitglied der Leitlinienkommission für ein pharmazeutisches Unternehmens arbeitet (oder gearbeitet hat), das Medikamente gegen das Krankheitsbild aus der Leitlinie herstellt, zum Beispiel Prostatakrebs. Manche Ärztinnen und Ärzte haben Beratungsverträge, erhalten Honorare oder Pharmaunternehmen finanzieren ihre Studien. 

Kritiker wie die Organisation „Leitlinienwatch“ fordern deshalb: Wer für eine Pharmafirma arbeitet, sollte dessen Produkte nicht in einer Leitlinie bewerten dürfen. Träger von Leitlinienwatch ist unter anderem Transparency Deutschland. Das Portal bewertet Leitlinien und vergibt Punktzahlen, unter anderem für die Kriterien Transparenz, Zusammensetzung der Leitliniengruppe oder die Unabhängigkeit der Vorsitzenden und federführenden Autoren und Autorinnen. Die Bewertung reicht von „Gut“ über „Achtung!“ bis hin zu „Reformbedarf!“. Die Leitlinie „Prostatakarzinom“ der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU) aus dem Jahr 2021 schneidet hier übrigens mit „Gut“ ab. 

Prostatavergrößerung

Lesen Sie, welche Behandlungen bei einer gutartigen Prostatahyperplasie laut Leitlinien in Frage kommen.

Prostata Hilfe Deutschland:  Gropaufnahme Tropfen fällt ins Wasser
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Welche Arten von Leitlinien gibt es?

Bei medizinischen Leitlinien gibt es verschiedene Stufen. Vor der Leitlinie stehen unterschiedliche Buchstaben und Zahlen. Diese Klassifizierung lässt Rückschlüsse auf die Verlässlichkeit und Aussagekraft der Leitlinie zu. Insgesamt unterscheiden Fachleute vier Stufen bei den medizinischen Leitlinien:

  • S1-Leitlinie: Dies sind Handlungsempfehlungen von verschiedenen Expertengruppen. Das Wissen wurde in einer S1-Leitlinie nicht systematisch zusammengetragen und bewertet. Sie ist daher nur wenig verlässlich und besitzt einen niedrigen Evidenzgrad.
  • S2k-Leitlinie: Sie wird von einem Gremium erarbeitet, das repräsentativ ist für das jewelige Fachgebiet, zum Beispiel für Prostatakrebs. Die Empfehlungen fußen auf einem Konsens, der in einem strukturierten Prozess erzielt wird. Wie bei der S1-Leitlinie wird hier das Wissen nicht systematisch gesammelt und bewertet. Daher sind S2k-Leitlinien ebenfalls nicht sehr verlässlich.
  • S2e-Leitlinie: Die Leitlinien-Kommission trägt hier das Wissen aus verschiedenen Quellen systematisch zusammen. Wenn Expertinnen und Experten unterschiedliche Auffassungen vertreten, gibt es aber keine strukturierte Konsensfindung. Die Leitlinie zur gutartigen Prostatavergrößerung (benignes Prostatasyndrom) besitzt die Stufe S2e.
  • S3-Leitlinie: Sie ist die höchste Stufe einer medizinischen Leitlinie,  am verlässlichsten und besitzt den höchsten Evidenzgrad. Die Leitlinie Prostatakrebs ist zum Beispiel eine S3-Leitlinie. Die Kommission ist repräsentativ besetzt und das Wissen wird systematisch gesammelt und bewertet. Außerdem wird bei unterschiedlichen Einschätzungen ein Konsens durch ein geregeltes Verfahren erzielt. Die Erstellung einer S3-Leitlinie ist sehr aufwändig und kann mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Zu einer S3-Leitlinie gibt es normalerweise auch eine Patientenleitlinie in laienverständlicher Sprache.

 

Quellen:

  • S3-Leitlinie Prostatakarzinom, Version 7.0 – Mai 2024, AWMF-Registernummer: 043-022O, Lhttps://www.leitlinienprogramm-onkologie.de/fileadmin/user_upload/Downloads/Leitlinien/Prostatatkarzinom/Version_7/LL_Prostatakarzinom_Langversion_7.0.pdf (Abruf: 21.7.2024)
  • Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) e.V., https://register.awmf.org/de/leitlinien und https://www.awmf.org/regelwerk/ (Abruf: 21.7.2024)
  • Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG), https://www.gesundheitsinformation.de/was-sind-leitlinien.html (Abruf: 21.7.2024)
  • Bundesministerium für Gesundheit (BMG), https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-von-a-z/l/leitlinien (Abruf: 22.7.2024)
  • Stiftung Gesundheitswissen, https://www.stiftung-gesundheitswissen.de/gesundes-leben/patient-arzt/medizinische-leitlinien-hilfe-bei-der-therapie-entscheidung (Abruf: 22.7.2024)
  • Leitlinienwatch, https://www.leitlinienwatch.de/ (Abruf: 22.7.2024)