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Pater Anselm Grün: "So lange ich atme, hoffe ich"
05. Februar 2019 | von Ingrid MüllerMichael Reinhard, Chefredakteur der Main-Post, sprach mit Pater Anselm Grün auf dem Infotag Prostatakrebs im Vogel Convention Center Würzburg über seine Krebserkrankung.
Pater Grün, Sie sind selbst an Nierenkrebs erkrankt. Wer hat Ihnen geholfen?
Nach der Diagnose habe ich mich erst einmal in die Stille zurückgezogen. Dann habe ich mit Mitbrüdern gesprochen, aber auch mit dem Arzt. Was ist es genau? Wie stehen die Chancen? Das gibt einem ja auch Hoffnung und man sieht klarer. Er sagte, der Krebs sei begrenzt und man könne eine Niere in einer Operation herausnehmen. Zunächst erscheint einem die Diagnose Krebs ja abstrakt und bedrohlich. Geholfen hat mir schließlich mein Glaube und mein Vertrauen, dass ich in Gottes Hand bin.
Wie war es, als Sie die Diagnose bekommen haben?
Die erste Reaktion war ein Stück weit Verdrängung. Ich dachte, ich habe doch viele Vorträge und Pläne für die nächsten Wochen. Ich wollte weiter herumfahren und Bücher schreiben. Ich habe mich gefragt: Was ist das Leben dann noch wert, wenn ich dass alles nicht mehr kann und die Krankheit mein Leben bestimmt? Das stellt die Vorstellung vom Leben und Gott in Frage. Aber dann habe ich alles abgesagt, weil ich gemerkt habe, dass ich nicht einfach mein Leben weiter verplanen kann. Es kommt etwas von außen, und dann kann ich nicht alles einhalten – ich musste andere enttäuschen. Und ich bin bedürftig, brauche Zeit und kann nicht immer nur etwas geben. Das war eine Erkenntnis. Ich musste mich der Krankheit stellen und sie als Herausforderung annehmen.
Sie sagen: „Ich führe ein gesundes Leben, ernähre mich gesund, meditiere und bin ein gläubiger Mensch – was soll mir also passieren?“ Haben Sie nun Zweifel am gesunden Gottesleben?
Ich dachte, dass Leben mit Gott müsste gesund sein und frgte mich: Was habe ich falsch gemacht? Meine Vorstellung ist zerbrochen, dass ein spirituell gesundes Leben auch körperlich gesund macht. Es ist eine Illusion zu glauben, dass ich gesund bleibe, wenn ich alles richtig mache. Gebet und Meditation sind keine Garantie für Gesundheit. Die Krankheit ist ein Widerfahrnis. Da ist im eigenen Leib plötzlich etwas Unbekanntes und Fremdes. Wie ein Einbrecher auch ein Fremder ist, der nicht in die eigene Wohnung gehört. Ich dachte mir, ich bin nicht mehr Herr im eigenen Haus. Auch wenn Vorstellungen und Selbstbilder zerbrechen – ich zerbreche nicht an der Krankheit.
Sind Sie noch demütiger geworden?
Auf jeden Fall. Durch meine eigene Krankheit bin ich vorsichtiger umgegangen mit meinen Theorien. Und ich versuche bescheidener und gelassen zu sein. Die Krankheit zwingt einen, auf neue Art und Weise demütiger zu werden. Ein Leser meinte: ‚Sie schreiben so schöne Bücher, wie können Sie Krebs haben?‘ Ich bin nicht der, der alles weiß und Lösungen hat. Ich bin anfällig und suche mit anderen einen Weg, um mit dem Leben umzugehen.
Bei Krebs suchen wir uns einen guten Arzt, der uns hilft, und wir haben die Haltung, er soll und gefälligst heilen. Sie sagen, es ist wichtig, sich innerlich mit der Krankheit auseinanderzusetzen.
Ja, ich habe überlegt: Was will die Krankheit mir sagen? Der erste Impuls ist ja oft, alles möglichst schnell wieder zu reparieren. Wir haben eine Machermentalität. Aber bei Krebs weiß ich nicht sofort, was ich machen soll. Und: Was macht es mit mir? Ich muss innehalten, mein Leben umstellen, etwas ändern. Die Krankheit verunsichert, und das muss ich zulassen. Ich muss nicht jedem Wunsch nachgeben, jede Erwartung erfüllen, sondern mich fragen, ob ich es wirklich will – ich bin mir auch etwas wert.
Wie komme ich aus Akutphasen wieder heraus?
Das Krankenhaus, der Arzt und Informationen über die Krebserkrankung geben Hoffnung. Aber das alleine genügt nicht. Ich muss mich der geistigen Herausforderung stellen, dass ich krank geworden bin. Was soll ich ändern? Wo soll ich Grenzen ziehen in der Beziehung mit anderen? Wo muss ich Erwartungen etwas entgegensetzen und Nein sagen, weil es mir nicht gut tut? Mit diesen Fragen muss ich mich beschäftigen.
Steckt hinter einer Krankheit eine Botschaft?
Es gibt nicht sofort eine Antwort, wenn ein Unglück oder Unfall das Leben durchkreuzt. Also auch keine schnelle Antwort auf die Frage, was mir eine Krankheit sagen soll. Ich dachte immer, ich würde Maß halten. Aber habe ich mir vielleicht etwas vorgemacht oder meine Fähigkeiten überschätzt? Manches möchte man ja nicht sehen. Ich denke vielleicht, ich mache alles richtig und halte Maß – aber die Krankheit sagt mir, das war eine Illusion.
Sie erzählten einmal, Sie seien früher vor Auftritten nervös und aufgeregt gewesen. Bis Sie dachten: Ich vertraue auf Gott, er wird mir die richtigen Worte geben. Hat Sie Ihr Gottvertrauen auch im Hinblick auf die Gesundheit jetzt enttäuscht?
Ich hatte das Gefühl, dass Freude und Spaß am Leben auch körperliche Gesundheit bedeuten. Der Körper sagt: ‚Nein, du warst nicht so im Einklang mit Dir‘. Man muss sich dem Unbekannten stellen, aber keine Schuldgefühle erzeugen und sich selbst anklagen. Auch die Schuld zu suchen beim Arzt, dem Ehepartner, der Firma oder anderen Umstanden, führt nicht weiter. Sonst bewegt man sich immer in der Vergangenheit. Ein verkehrtes Leben kann der Grundkeim für eine Krankheit sein, aber nicht immer. Ich muss akzeptieren, dass ich jetzt krank bin. Alles andere führt von dir selbst weg. Krankheit ist für mich eine wichtige Herausforderung. Ich halte es deshalb mit dem Philosophen C.G. Jung: Ich muss in die Zukunft schauen und mich fragen: Was soll ich bewusster machen?
Hilft es bei dieser Suche, wenn ich aufschreibe, das was mir in den Sinn kommt?
Das Schreiben ist sicher ein wichtiger Weg, um seine Gedanken zu klären. Das Grübeln bringt dagegen nicht weiter, weil man immer um das Gleiche kreist. Beim Schreiben kommen die Gedanken in Bewegung. Auch laut mit Gott zu beten hilft auch: Was hältst du von mir? Was ist Deine tiefere Wahrheit? Man muss alles nach außen bringen, was einem auf der Seele liegt. Die Krankheit ist ja auch ein Ausdruck.
Viele Krebspatienten kennen Schmerzen. Sie sagen, der Schmerz habe seinen Sinn. Man solle ihn integrieren und nicht bekämpfen.
Naja, wenn die Schmerzen zu stark sind, dann nehme ich auch Medikamente. Aber Schmerz ist ein Signal, dass etwas verkehrt ist im Leib. Man sollte nicht nur mit Medikamenten, sondern auch mit spirituellen, geistigen Methoden arbeiten. Und manchmal durch den Schmerz hindurchgehen. Ich sage aber nicht, dass ich das jederzeit kann. Ich kenne meine Grenzen.
Was war Ihre größte Herausforderung während der Krankheitsphase, von der wir profitieren können?
Ich bin normalerweise ziemlich schnell in allem. Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, habe ich gemerkt, dass ich nur ganz langsam gehen kann. Ich musste darauf schauen, dass die Bewegung nicht wehtut. Ich habe mehr Achtsamkeit gelernt und mir meine Langsamkeit ehrlich eingestanden. Man braucht mehr Zeit, und die muss man sich gönnen. Ich habe vier Wochen alles abgesagt und gemerkt, dass ich meine Gefühle ernst nehmen muss.
Hatten Sie nach der Krebsdiagnose Todesangst?
Als ich die Diagnose bekam, habe ich mit dem Tod gerechnet. Er ist eine Möglichkeit. Ich fahre oft nachts Auto, und da kann ja auch immer alles passieren. Ich möchte gerne leben und arbeite gerne weiter, weil es Spaß macht. Aber wenn es Gottes Wille ist und das Leben jetzt kürzer ist, dann bin ich einverstanden. Ich bin in seiner Hand. Ich bitte Gott, mich zu segnen und zu schützen. Ansonsten versuche ich jetzt eben, bewusster ganz im Augenblick zu leben.
Was empfehlen Sie Menschen, die in ihrer Krankheit verzweifelt sind? Wo können Sie Trost finden?
Ich habe auch kein Patentrezept. Aber rebelliere nicht dagegen, die Krankheit ist vielleicht ja sogar sinnvoll. In der Bibel gibt es den Psalm 23. Dort heißt es, dass wir darauf vertrauen sollen, dass uns nichts fehlen und es uns gut gehen wird. Der Psalm ist kein Trostpflaster, das ich einfach aufklebe, sondern ein Ringen. Man muss Aggression, Wut, Verzweiflung oder Tränen zulassen und aushalten. Man darf aber auch hoffen und die Sehnsucht haben, heil zu werden. Es ist Gottes Wille, wie lange ich lebe. Und so lange ich atme, hoffe ich. So gehe ich nächste Woche in die Klinik zur Untersuchung und hoffe, dass alles gut ist.
Welche Lehren haben sie aus Krebskrankheit gezogen?
Erstens: Wer bin ich? Ich bin nicht der Fitte, Funktionierende. Deshalb werde ich in diesem Jahr besser auf mich aufpassen und dafür sorgen, dass ich genügend Pausen habe. Zweitens: Ich habe gelernt, Beziehungen zu Freunden und der Familie achtsamer und dankbarer zu leben. Und drittens: Die Demut zu akzeptieren, dass wir als Menschen hinfällig und sterblich sind.
Gesprächsprotokoll: Ingrid Müller